Hannelore Fobo

Evgenij Kozlov: B(L)ACK ART 1985 - 1987 Seite 2




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Evgenij Kozlov: B(L)ACK ART


B(L)ACK ART

Für eine genauere Betrachtung der Periode der Jahre 1985 – 1987 ist es notwendig, dass wir über die knappe stilistische Analyse von Evgenij Kozlovs Bildern hinausgehen und uns mit dem Inhalt dieser Bilder beschäftigen. Für den Inhalt gilt, dass in der Zeit von 1985 bis 1988 und in einigen Ausläufern noch bis 1990 die aktuelle Situation in direkterer Weise ihren Widerhall findet als zu anderen Zeiten. Auch hier muss wieder die Einschränkung gemacht werden, dass dieses Merkmal nur auf einen Teil der Werke dieser Periode zutrifft.

 

Bei der aktuellen Situation handelt es sich um die Zeit der Perestroika, die die spezifische Atmosphäre im Leningrad der Mitte der achtziger Jahre prägte. Die aggressive sowjetische Rhetorik gegen die Nato und insbesondere die USA wurde mit dem Machtantritt  Michail Gorbatschows 1985 von der Rhetorik der Perestroika überlagert; es fand eine Öffnung der UdSSR statt.
Evgenij Kozlov: B(L)ACK ART. Mischtechnik, Papier, 72 x 52,2 cm, 1986.

Evgenij Kozlov
B(L)ACK ART. Mischtechnik, Papier, 72 x 52,2 cm, 1986

Der gebürtiger Leningrader Evgenij Kozlov war damals dreißig Jahre alt und in den Kreisen der künstlerischen Avantgarde bereits anerkannt; er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der „Neuen Künstler“, der führenden Leningrader Künstlergruppe. Die Eigenständigkeit seiner Weltanschauung war schon in den siebziger Jahren ausgeprägt. Sie ist verbunden mit einer besonderen Empfindung für die Realität und Ursprünglichkeit von Farbe, Form und Raum und den lebendigen Kräften, die diese schaffen. Diese Eigenständigkeit trug ihm sowohl Bewunderung als auch heftige Ablehnung und etliche Schwierigkeiten bei der Gestaltung seines Lebens ein. Sie gibt seiner Kunst ein philosophisches Gepräge, insofern er diese Empfindungen reflektiert, ihre tiefere Bedeutung erforscht und die Ergebnisse gezielt bei der Komposition seiner Werke einsetzt. Wie er dabei vorgeht, kann man anhand der Tagebücher aus der Zeit von 1979-83 nachvollziehen, in denen er mögliche Kompositionen für zukünftige Werke in knappen Worten beschreibt. mehr >> Die Beschreibungen sind eingebettet in Überlegungen zu existentiellen Erscheinungen: Gott – Mensch, Alles – Nichts, der Ursprung des Gedankens. Er bespricht die Einflüsse, die das Kunstschaffen prägen. Hier ein Zitat von 1983, das die Bedeutung der Architektur für das Raumerlebnis hervorhebt (page 4-17 >>):

 

    „Мысль человека-художника скорее дальше продвигается вперед и правдивее. Среди строительства действительно отвечающего в худ. и эст. смысле духу времени - это тот постоянный допинг - толчок подсознательный, который способен организовывать объемы и простанства и цвет, которыми мыслит художник.”

    „Der Gedanke des künstlerischen Menschen bewegt sich schneller voran und wahrheitsgemäßer. Diejengen Bauten, die wirklich im künstlerischen und ästhetischen Sinn dem Zeitgeist entsprechen: das ist das ständige "Doping" - ein unbewusster Impuls, der in der Lage ist, Volumen, Räume und Farbe zu organisieren, mit deren Hilfe der Künstler denkt.” mehr >>

 

Zu den visuellen Einflüssen durch die Bildende Kunst (insbesondere mit der Ermitage) kommt das Interesse an Literatur, Musik, Mode. Zu all dem gehört wie selbstverständlich die Kultur Westeuropas und der USA des zwanzigsten Jahrhunderts. In den Tagebüchern lesen wir zahlreiche Namen, von Thomas Mann über Pierre Cardin bis Steve Reich.

 Evgenij Kozlov o. T. Frottage, Tusche, Papier, 18,2 x 12,6 cm, 1986

Evgenij Kozlov
o. T.
Frottage, Tusche, Papier, 18,2 x 12,6 cm, 1986

Ungeachtet aller offiziellen Kritik und Zensur hatte diese Kultur, insbesondere die Musik, seit langem ihren Stellenwert im Leben der sowjetischen Jugend. Dies gilt zumindest für die Avantgarde der Großstädte, die Kontakt zu Ausländern hatte. Jazz, soweit es sich nicht um Free Jazz handelte, war gesellschaftlich etabliert. Pop-, Rock-, Jazzschallplatten waren auf dem schwarzen Markt erhältlich, oder man nahm sie auf Tonband auf. Radio Luxemburg, das man nachts gut empfangen konnte, sendete die aktuellen Hits. In Evgenij Kozlovs Archiv gibt es einen Notizblock aus den achtziger Jahren, der den Inhalt von siebzehn Tonbändern auflistet, getrennt nach A- und B-Seite. Darunter finden sich Pink Floyd, Charles Mingus, Chick Corea, Chicago und viele andere. Die zeitgenössiche Kunst und Popkultur erreichte mit Bildbänden über Keith Haring oder Andy Warhol ihr Publikum. Evgenij Kozlov übersetzte Seite für Seite Steven Hagers ART AFTER MIDNIGHT. THE EAST VILLAGE SCENE von 1986, eine Dokumentation des Punk und New Wave im New York der frühen Achtziger. Hier finden sich Beschreibungen der einschlägigen Clubs und Ausstellungen, die Namen der angesagten Galerien und Künstler, darunter der oben genannten, aber auch von Jean-Michel Basquiat oder Kenny Scharf.

 

Das Wissen um internationale kulturelle Strömungen verstärkte das Selbstbewusstsein der „Neuen Künstler“. Es gibt ihm eine aggressive Komponente, allerdings positiv aggressiv, das heißt, schöpferisch und nicht zerstörerisch. Mit diesem Selbstverständnis beginnen die Neuen Künstler, sich die gesellschaftlichen Räume anzueignen, die ihnen bislang verschlossen blieben. Die repressiven Maßnahmen des Sicherheitsapparates sind in den Achtzigern weniger massiv als in den siebziger Jahren, und im Zuge der Perestroika ergeben sich neue Möglichkeiten.

 

Evgenij Kozlov: B(L)ack art. Tinte, Papier, ca. 71,8 x 45,3 cm, 1986

Evgenij Kozlov
B(L)ack art
Tinte, Papier, ca. 71,8 x 45,3 cm, 1986
Es ist ein Amalgam aus sich widerstreitenden und widerstrebenden Mächten. Aus dieser Situation heraus schafft Evgenij Kozlov in den Jahren 1985 bis 1987 eine Reihe von Bildern mit ähnlicher Thematik und Stilistik, die ich mit dem Titel mehrerer Werke aus jener Zeit als B(L)ACK ART bezeichnen möchte. Der Titel ist auf diesen Werken auch ein grafisches Element, doch ist in der Buchstabenfolge das L nicht in Klammern gesetzt, sondern fungiert als gestricheltes Trennungszeichen zwischen B und A, so dass man auch BACK ART lesen kann. Eine solche doppelte Lesart versuche ich durch die Klammern wiederzugeben.

 

Diese widerstreitenden Kräfte nimmt der Künstler auf und formt sie mit Hilfe seiner eigenen Kräfte um, verleiht ihnen eine andere Dynamik. Weil er in der Kunst lebt, werden sie universell, das heißt, aus dem politischen Kontext herausgehoben. Ich habe den Titel B(L)ACK ART gewählt, weil er meiner Auffassung nach gut den subversiven Humor zum Ausdruck bringt, der für diese Werkperiode kennzeichnend ist. Es ist ein Humor mit einer aggressiven Note, gleichermaßen subtil und drastisch, doppelbödig und direkt – eine besondere Art von schwarzem Humor. B(L)ACK ART besitzt eine raffinierte Ästhetik des Understatement, die vorgibt, naiv zu sein, spontan zu sein – street art, back art. Evgenij Kozlov hat die spontane, ungeplante Kunst 2009 als CHAOSE ART definiert. Im Gegensatz zur CHAOSE ART ist B(L)ACK ART durchaus komponiert, und ihre Spontaneität ist eben vorgetäuscht. Wie eine solche Komposition aufgebaut wird, will ich im Kapitel über das Gemälde Wenn ihr beginnt, Muskeln zu zeigen! behandeln.

 

Evgenij Kozlov o.T., Tusche, Papier, 29,6 x 21 cm, 1980

Evgenij Kozlov
o.T.,
Tusche, Papier,
29,6 x 21 cm, 1980

B(L)ACK ART zeigt die bereits oben formulierte Expressivität der Graffitis oder Comics’: plastische, stark konturierte und abstrahierte Zeichen und Figuren, beispielsweise ein grimmiger Mond, ein Sputnik mit Rückstoß, ein Totenkopfmännchen mit Schirmmütze, eine Explosion, Wolkenkratzer, Soldaten, eine Frau im Bikini. Später, 1987, kommt die Lächelnde Sichel mehr >> dazu, die als Symbol überleitet zur grafischen Umgestaltung sowjetischer Symbole (1987 /88), welche in rein geometrische Figuren einmündet. Ein weiteres Merkmal der B(L)ACK ART ist der Einsatz von Schrift und Text beziehungsweise schriftähnlicher, lautmalerischer Zeichenfolgen als „sprechende“ Symbole: Zickzackbänder, Schleifen, Spiralen, Sternchen und dergleichen mehr. Bereits 1980 finden sich Zeichnungen, die Komposition und Stil der B(L)ACK ART vorwegnehmen.

 

Evgenij Kozlov: Внешний Облик Отношений Двух Держав / Die Äußere Erscheinung des Verhältnisses der Beiden Weltmächte „Мертвые Ласки Века“, До .../ „Die toten Zärtlichkeiten des Jahrhunderts, Bis ... Tempera, Gouache/Karton, 95 x 71 cm , 1980

Evgenij Kozlov
Внешний Облик Отношений Двух Держав /
Die Äußere Erscheinung des
Verhältnisses der Beiden Weltmächte
„Мертвые Ласки Века“, До .../
„Die toten Zärtlichkeiten des Jahrhunderts, Bis ...

Tempera, Gouache/Karton, 95 x 71 cm , 1980
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Die Bildinhalte thematisieren eine Polarität von Kräften oder Mächten, die sich nicht nur, aber eben auch in der Polarität von USA und UdSSR („CCCP“ in der kyrillischen Schreibweise) zeigt. Auch sie finden einen Vorläufer 1980, und zwar das Gemälde mit dem Titel Внешний Облик Отношений Двух Держав / Die Äußere Erscheinung des Verhältnisses der Beiden Weltmächte. Es wurde später umbenannt in „Мертвые Ласки Века“, До ... / „Die toten Zärtlichkeiten des Jahrhunderts“, Bis ... . USA und UdSSR sind hier figurativ dargestellt, sie werden von einem dahinterstehenden Engel beschützt. Das Bild nimmt sowohl thematisch als auch gestalterisch eine singuläre Position in Evgenij Kozlovs Werk aus jener Zeit, vielleicht sogar überhaupt ein. Man sieht an diesen Beispielen von 1980, dass die B(L)ACK ART nicht einfach aus dem Nichts entsteht oder allein dem Einfluss gewisser aktueller Tendenzen zuzurechnen ist, seien es politische oder künstlerische.

 

 

Doch tritt in den Jahren 1985 bis 1987 der Konflikt, der Kampf in den Vordergrund: die handelnden Figuren, die meist paarweise angeordnet sind, sind in mehr oder weniger direkter Auseinandersetzung begriffen. Sie halten sich gegenseitig in Schach, oder es gibt Sieger und Verlierer. Ein Motiv von 1987 mit dem Titel CCCP – USA, das in verschiedenen Varianten existiert, ist direkt als Comic in einer Abfolge von sechs Bildern gestaltet. Der Titel ist in großen transparenten Buchstaben über das gesamte Bildformat aufgetragen. Es ist der Kampf Davids gegen Goliath, wobei allerdings die Zuordnung der beiden Figuren zu USA oder CCCP offen bleibt.

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Evgenij Kozlov: CCCP - USA. Mischtechnik, Baumwolle, 83,5 x 61,5, 1987.

Evgenij Kozlov
CCCP - USA. Mischtechnik, Baumwolle, 83,5 x 61,5, 1987

 

Eine nicht unerhebliche Rolle im Gesamtkontext der Bildinhalte spielt der Kosmos, dessen Eroberung ja sowohl bei den USA als auch der Sowjetunion mehr als nur Prestigesache war. Selbstverständlich waren damit militärische Interessen verbunden, aber es spielt auch eine gewisse romantische Suche nach dem Leben im All mit, die wir aus den Science Fiction Filmen und Büchern jener Zeit kennen.

Evgenij Kozlov: Полет Американцев в космосе./ Der Flug der Amerikaner im Kosmos. Gouache, Papier, 72 x 45.6 cm, 1986.

Evgenij Kozlov
Полет Американцев в космосе. / Der Flug der Amerikaner im Kosmos.
Gouache, Papier, 72 x 45.6 cm, 1986.

 

1961 konnte die UdSSR mit Gagarin als erstem Menschen im Weltall den Wettlauf mit der USA für sich entscheiden, dann zog die USA 1969 mit der ersten bemannten Mondlandung nach. Der Wettlauf ins All ist Thema von Kozlovs Bild Der Flug der Amerikaner im Kosmos (1986). Es zeigt im unteren Drittel eine Rakete, deren Insassen in unanständiger Haltung hintereinander knien, wobei sie die Arme weit nach vorne reißen, in Richtung des Fluges, während die Rakete sich in großer Beschleunigung befindet. Diese Darstellung ist eine Persiflage auf das Eindringen in den Kosmos, das hier eine eindeutig sexuelle Komponente erlangt. Den Wunsch nach der Eroberung des Kosmos durch die bemannte Raumfahrt hat Evgenij Kozlov später übrigens zurückgewiesen, und zwar ohne jegliche Persiflage in einer siebenteiligen Serie mit dem Titel НУ ЮР, НЕ УЛЕТА ТУДА / Hey Jury, flie da nicht hin im Jahre 2011 [1].

Die Kenntnis des Raumes außerhalb der Erde kann auch ohne körperliche Bewegung geschehen, auf geistige Art. Die Kenntnis der „schwarzen Löcher“ ist überhaupt nur geistig möglich.

 

Zu den Bildern der B(L)ACK ART gehören im engeren Sinne Я-Я / YA-YA (ca. 90 x 80 cm), Я-Я / YA-YA (145 x 404 cm), Шик-шок-шоу / Shick-Shock-Show, Сегодня В Номере / In der heutigen Ausgabe, alle 1985; lieb mein und lieb fergiss von 1985 oder 1986. Von 1986 sind es Шок АРТ / Shock Art (verschiedene Versionen), Джеймсс Бонд / Jamess Bond, Когда вы начинаете чувствовать мускулы! / Wenn ihr beginnt, Muskeln zu spüren!, Полет американцев в космосе / Der Flug der Amerikaner im Kosmos (verschiedene Versionen), Центральное телевидение / Zentrales Fernsehen, B(L)ACK ART (verschiedene Versionen), Д. А. С. / D. A. S., CCCP – USA, „Опять 25. Ахтунг, Ахтунг! Н.З.Л.П.Д.П.Немецкий Зольдатн. / „Schon wieder 25. „Achtung. Achtung! N.Z.L.R.D.P. Deutsch Soldatn! mehr >>, und schließlich von 1987 АЭРОКОБРА / AEROKOBRA, Все Опасно для Жизни / Alles ist lebensgefährlich, Oile, СОС / SOS, CCCP – USA; außerdem Страх Врагам / Terror to the Ennemies mehr >>, das 1988 entstanden ist. In zahlreichen grafischen Vorarbeiten, Skizzen und übermalten Fotografien werden die Themen und Symbole entwickelt [2]. Die kleinen Formate sind ausgesprochen hilfreich, wenn man versucht, die Entwicklung der Symbole nachzuvollziehen, zumal die Datierung bei einer Reihe von Gemälden unsicher ist oder sie nachträglich datiert wurden, so dass eine exakte Abfolge der Arbeiten nicht mehr zu erstellen ist. Besonders fruchtbar für die Entwicklung der B(L)ACK ART ist die Fotoserie, die Evgenij Kozlov 1985 während einer Session mit Timur Novikov, Igor Verichev und dem Holländer Johann erstellte. Sie ist der „Spin Off“ für insgesamt zwölf Fotocollagen, Arbeiten auf Papier und Gemälde. mehr >>



[1] Der russische Originaltitel kürzt die Verbform „uletaj“ um den letzten Buchstaben, was ihm Rhythmus und Klang verleiht: Hej Yur, ne uleta tuda. Die deutsche Übersetzung hingegen schafft mit demselbem Kunstgriff eine doppelte Interpretation: „flieg” und „flieh”.


[2] Die Zerstörungskraft der sogenannten friedlichen Nutzung der Kernenergie zeigte 1986 sich in der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. Auf zwei Skizzen von 1987 hat Evgenij Kozlov sich mit dieser Katastrophe auseinandergesetzt. Hier zitiert er unter anderem eine verharmlosende Äußerung, die er M. Rosen zuschreibt (Morris Rosen war Sicherheitsexperte der Internationalen Atomenergie–Organisation IAEA): „В посведневной жизни все мы подвержены радиации / Im täglichen Leben sind wir alle der Radioaktivität ausgesetzt”. Auch wenn man keinen unmittelbaren Bezug von diesem Ereignis zu den Motiven der Gemälde feststellen kann, so ist die Gefährdung der menschlichen Existenz durch Radioaktivität im Bewusstsein des Künstlers verankert. Er erzählte mir, wie er einmal mit seinem Freund Viktor Labutov zum Fischen auf der Ostsee mit einem Boot in die Nähe des Atomkraftwerks Sosnowy Bor ruderte. Als er in den Himmel blickte, sah er eine riesige Wolke in Form eines Schädels. Sein Freund erkannte diese Form jedoch nicht.

Veröffentlicht 2012 
Letzte Änderung 1. August 2020

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