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E-E PeOPLe
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Ten Selected works with details |
Introduction / Einführung (deutsch)
Einführung Ein junger sitzt Mann auf einem Schemel, leicht nach vorne gebeugt. In der rechten Hand hält er einen Stift, mit dem er etwas schreibt – einen Text, der allerdings schlecht zu lesen ist, denn er ist fast vollständig mit schraffierten Linien übermalt. Das letzte Wort, Красавицы/ Krasavitsy, gab der Komposition von 2019 den Titel: „…Красавиц/ици/ца“, ausgeschrieben Красавици und Красавца. Übersetzt bedeutet dies „…der Schönen / des Schönen“, also eine weibliche beziehungsweise männliche Schönheit, jeweils im Genitiv. Dabei wählte (E-E) Evgenij Kozlov im Titel für die weibliche Form absichtlich die falsche Endung и (i) anstelle des Buchstaben ы (y), und zwar aufgrund des besseren Klangs, wie er sagt. Die Fotografie zeigt, wie er dabei ist, den „richtigen“ Buchstaben auszumalen. Wir sehen seine Hände, und die rechte Hand mit dem Stift in der Hand spiegelt die Hand des Schreibers. In gewisser Weise spiegelt sich der Künstler damit selbst.
Die Komposition gehört zum dritten Teil des Zyklus’ mit dem russischen Originaltitel „ВЕК ХХ“ – in Umschrift „VEK XX“, englisch „Century XX“ und deutsch „Jahrhundert XX“ –, dessen drei Teile aus mehr als eintausend Einzelwerken bestehen. ВЕК ist außerdem (zufällig) das Anagramm der Anfangsbuchstaben von Евгений Валентинович Козлов, Evgenij Valentinovich Kozlov, welches der Künstler Ende der 1970-er / Anfang der 1980-er alternativ zu anderen Signaturen verwendete. Interessant ist, dass im Titel der Komposition die beiden Endungen ици und ца (itsi / tsa) untereinander, nicht nebeneinander gestellt sind, jeweils mit einem Bindestrich an das Rumpfwort angehängt. Wie stehen an einer Weggabelung, die uns zwei Möglichkeiten eröffnet, die gleichwertig sind. Die Wahl des Weges obliegt dem Betrachter.
(E-E) Evgenij Kozlov
Wesentlich besser lässt sich das Textfragment lesen in der Grafik von 2008 aus dem zweiten Teil von „Jahrhundert XX“, die dem Bild aus dem dritten Teil als Vorlage diente:
Eine schlanke Figur, ein leichter Gang, anmutige Bewegungen, eine zarte, samtige Haut, liebreizende Frische, Reinheit… ist das nicht wirklich das Porträt einer Schönheit?
Dieser Satz ist eine fast identische Wiedergabe eines sowjetischen Zeitungsausschnitts, appliziert auf eine Collage aus dem ersten Teil von „Jahrhundert XX“, welche 1989 begonnen wurde. Und auch der Titel dieses „Urbildes“ ist im Vergleich zur Komposition von 2019 ausführlicher: “Пресс-конференция: … чем не портрет красавицы?” / „Pressekonferenz. …ist das nicht wirklich das Porträt einer Schönheit?“
Auf diese Weise ist der Titel „…der Schönen / des Schönen“ einerseits das Konzentrat des ursprünglichen Textfragments, andererseits bietet er mit seiner überraschenden Wendung neue Perspektiven. Solche gegenläufigen Prozesse – Prozesse, die schon mehr als dreißig Jahre andauern – bestimmen vor allem die Entwicklung der Bildmotive durch die drei Teile von „Jahrhundert XX“, die im Folgenden mit ihren technischen Besonderheiten kurz vorgestellt werden.
Der Zyklus
Teil 1 – Collagen
Teil 1 des Zyklus’ umfasst vierzig doppelseitige Collagen, also achtzig Motive. Die Blätter stammen ursprünglich aus einem Schreibheft mit kartoniertem Einband im Format A4, dessen Titel „ВЕК ХХ“ / „VEK XX“ dem Zyklus den Namen gegeben hat. E-E Kozlov hat die Gestaltung der Collagen 1989 begonnen. Dabei kombinierte er Bilder und Texte aus sowjetischen Zeitungen mit Zeichnungen, Gedichten und anderen handschriftlichen Eintragungen. Bei den Bildern, die er für die Collagen wählte, handelt es sich in erste Linie um Darstellungen von Personen in verschiedenen Kontexten – Arbeit, Freizeit, Mode, Sportveranstaltungen, Armee etc. Sie entsprechen bestimmten sowjetischen Stereotypen, die der Künstler zwar als Clichés zurückweist, die aber aufgrund ihres bildnerischen Potentials, welches er in seiner Kompositionen entfalten kann, doch für ihn interessant sind.
(E-E) Evgenij Kozlov Nach 1989 hat der Künstler die Collagen über mehrere Jahre fortgesetzt und erweitert, hauptsächlich mithilfe von fotografischen Reproduktionen eigener Werke. Für diese Erweiterungen wurden die Collagen aus dem Einband herausgelöst, zum Teil als Einzelseiten im DinA4-Format und zum Teil als Doppelseiten im DinA3-Format. Das Herauslösen bedingt, dass jedes Blatt sowohl auf der Vorder- als auch auf Rückseite gestaltet ist, jedoch sind beide Ansichten gleichwertig. Auf einem separaten Blatt, das alle Titel chronologisch aufführt, tragen sie als Datum „1989. 1992. 2004. 2007. 2008“ und als Ort der Schöpfung „Leningrad / Berlin“. Streng genommen waren sie also mehrmals „fertig“, aber eigentlich zum Abschluss gekommen sind sie erst 2008. Viele der Blätter sind nun weit über das ursprüngliche Format hinaus gewachsen. Manche kann man über mehrere Stufen ausklappen und diese Klappseiten sowohl auf der vorderen als auch der rückseitigen Collage in verschiedener Weise anordnen, so dass sich sechs oder mehr Ansichten ergeben. Nach ihrer Fertigstellung hat der Künstler die Collagen folgendermaßen definiert:
(E-E) Evgenij Kozlov Weitere Collagen aus dem Zyklus finden sich hier >> Teil 2 – Grafiken Unmittelbar nach der Fertigstellung der Collagen begann E-E Kozlov mit den Grafiken im Format A2, dem zweiten Teil von „Jahrhundert XX“. Dafür wählte er aus einer Collage einen bestimmten Teil der Komposition, manchmal auch nur ein Element oder eine Figur, die er abzeichnete und dabei neu anordnete. Doch bereits das Abzeichnen nutze er, um einige Eigenschaften der Objekte zu ändern. Diese Komposition übertrug er mithilfe von Pauspapier, auch Kohlepapier oder Durchschlagpapier genannt, auf weitere Papiere im A2-Format und schuf damit Einzelserien mit einer bestimmten Anzahl von Blättern oder „Fassungen“.
Da die Standardgröße von Pauspapier dem üblichen A4 von Schreibpapier entspricht, mussten jeweils vier Exemplare zu einer A2-Fläche zusammengeklebt werden – für jede Serie die entsprechende Anzahl. Pauspapier gibt es üblicherweise in blau und schwarz; Kozlov besaß aber noch einen Restbestand von gelbem und lilafarbenem Pauspapier aus alten sowjetischen Vorräten, die er miteinander kombinierte. Die Anzahl der Fassungen pro Serie variiert. Es können zwischen fünf und dreizehn Fassungen sein, in der Regel sind es jedoch sechs oder sieben.
Dabei liegt das letzte Durchschlagpapier einer Serie über der ersten Fassung der nächsten Serie. Damit können zwei Serien durch bestimmte Motive miteinander verbunden werden. Jede einzelne Fassung wird für sich ausgearbeitet, und die Eigenschaften einer jeden Fassung übertragen sich somit auf die folgenden Fassungen. Das gilt aber nur für die mit starkem Druck gezeichneten Linien, denn Zeichenpapier im DinA2 Format besitzt eine gewisse Stärke, die nicht unbedingt für das Durchpausen von Zeichnungen prädestiniert ist – und schon gar nicht durch diverse Lagen. Um den nötigen Druck zu erreichen, benutzte E-E Kozlov Kugelschreiber, den er mit Kraft übers Papier führte. Spätestens der vierte Durchdruck ist normalerweise sehr undeutlich. Man kann das Motiv nun langsam verblassen lassen oder an seine Stelle etwas komplett anderes setzen – oder es erneut mit Kugelschreiber konturieren, wenn man es behalten möchte. Daher ist nicht voraussehbar, ob sich die erste und letzte Fassung einer Einzelserie ähneln oder im Gegenteil komplett unterschiedlich sind.
Auf diese Weise werden sämtliche Motive vollkommen in das eigene Schaffen integriert, ob es sich handgezeichnete Kopien der Zeitungsauschnitte auf den Collagen oder fotografische Reproduktionen von Kozlovs eigenem Werk handelt. Was den Aufbau einer Komposition betrifft, so sind die verschiedenen Herkünfte der Motive völlig gleichwertig; ausschlaggebend für die Wahl eines bestimmten Motivs ist lediglich sein ästhetisches Potential in Verbindung mit seinem semantischen Gehalt. Das gilt ebenso für „Fremdzeichnungen“, denn ein großer Teil der A2-Blätter war bereits mit Zeichnungen anderer Personen versehen. Sie stammen von einer Kunstaktion, die 2005 in Kozlovs damaligen Atelier stattfand – im Rahmen des „Team-Building“ einer Firma, die ihre Mitarbeiter zum Aktzeichnen einlud mehr > >. Wie zu erwarten, waren die Ergebnisse ausgesprochen kurios, und fast niemand wollte seine Schöpfungen mit nach Hause nehmen. Doch Kozlov sammelte sie alle ein und verwendete sie im zweiten Teil seines Zyklus’ „Jahrhundert XX“. Die circa fünfhundert Grafiken, begonnen 2008, umfassen einen Zeitraum von zehn Jahren, wobei der Künstler 2017 sich erneut einigen Grafiken zuwandte, die er seiner Meinung nach nur unvollständig ausgeführt hatte. Sie werden ergänzt durch dieselbe Anzahl von Kohlepapieren, die E-E Kozlov als „Light-Box“ bezeichnet, weil man sie am besten mithilfe einer entsprechenden Hintergrundbeleuchtung betrachten kann. Für diese scheinbar chaotischen Kompositionen prägte E-E Kozlov 2009 den Begriff „CHAOSE ART“ als Stilbegriff für eine allgemeine Tendenz des zwanzigsten und des einundzwanzigsten Jahrhunderts, wobei der Buchstabe „E“ ein Rückgriff auf seinen Künstlernamen „E-E“ ist (gesprochen ye-ye), mit dem er seine Werke seit 2005 signiert (stempelt) mehr > >.
(E-E) Evgenij Kozlov "Некроложка / Ein kurzer Nachruf" ist der Titel der Collage der Seite 64, die E-E Kozlov gmeinsam mit Igor Verichev begonnen hat. Die siebenteilige Grafik-Serie 64 von 2009 trägt stattdessen den Kurztitel Titel "В бешеном / In rasendem." Zum Langtitel der Serie hier >> und größeren Ansichten hier >> Zum Video mit Musik von Dmitri Pavlov hier >> Fassungen zwei bis sechs der Grafik-Serie 64 entstanden auf Blättern mit von Laien gezeichneten Aktfiguren Teil 3 – Übermalte Drucke auf Leinwand (E-E) Evgenij Kozlov Das ästhetisch-semantische Potential, das einem jedem Kunstwerk innewohnt, führte bereits zu einer ungefähr sechsfachen Zahl von Grafiken gegenüber den Collagen, und eine solche nicht nur zahlenmäßige Entwicklung des Potentials lässt sich auch für die übermalte Drucke auf Leinwand denken. E-E Kozlov stellte sich vor, dass jede der Grafiken großformatig auf Leinwand gedruckt würde, und zwar einerseits in realistischen Farben und andererseits als Negativdrucke in jeweils unterschiedlichen Farbzusammenstellungen, so wie sie beispielsweise die Farbton-Skala des Photoshop-Programms generiert. Die fertigen Drucke würde er wiederum ergänzen und erweitern. Was die Anzahl der Drucke betrifft, so ist im Vergleich zur Anzahl der Collagen also eine exponentielle Steigerung möglich. Doch ist dies so in der Theorie, denn in der Praxis bedeutete eine vollständig Umsetzung der Idee auf der Grundlage von fünfhundert Grafiken einen erheblichen Aufwand, der im Grunde genommen nur in entsprechenden Räumlichkeiten und durch ein Team von Mitarbeitern zu bewältigen ist – beides Voraussetzungen, die nicht gegeben sind. Das Team von Mitarbeitern besteht aus mir alleine – Kozlov und ich arbeiten arbeitsteilig, wobei ich für die technischen Aufgaben zuständig bin, beispielsweise die Digitalisierung der Vorlagen beziehungsweise ihre Vorbereitung für den Druck. Davon abgesehen ist jeder von uns beiden gleichzeitig in eine Reihe anderer Projekte involviert, was die zur Verfügung stehende Zeit automatisch reduziert. Aus diesen Gründen haben wir uns bei der Wahl der Motive, mit der wir 2019 begannen, nicht an die ursprüngliche Chronologie der Grafiken gehalten, sondern haben sie aus dem gesamten Zyklus ausgewählt. Dabei haben wir meistens die jeweils erste Fassung einer Serie genommen, die normalerweise kräftigere Farbtöne aufweist als die folgenden. Aufeinanderfolgende Fassungen finden sich ebenfalls, wenn auch nicht als vollständige Serie. Es handelt sich um Fassung eins mehr >> und zwei mehr >> von „Kultur-Ecke“ sowie die Fassungen sechs, sieben und acht von „Ein Seite mit Musik“ mehr >>. Was die Negativ-Drucke betrifft, so ist ein solcher Negativ-Druck zusammen mit dem entsprechenden Original-Positiv ebenfalls in zwei Serien zu finden, und zwar jeweils mit der ersten Fassung von „Auf dem Höchsten Niveau“ pos >> • neg >> und von „Es Schneit“ pos >>; letztere trägt in der Negativfassung den Titel „Weiße Asche“ neg >>. Die anschließenden Veränderungen der Drucke durch den Künstler sind noch immer erheblich, aber sie beziehen sich weitgehend auf Details und fallen daher nicht immer unmittelbar ins Auge wie bei den Grafiken. Kozlov hat erneut mit farbiger Tusche experimentiert, die, aufgebracht auf die Rückseite der Leinwand, in die Vorderseite einsickert und dort einen zarten Farbschleier bildet. Diese Technik hat er zunächst ab 2015 für kleinere Formate entwickelt, und ein erster Zyklus solcher Werke wurde 2016 unter dem Titel „E-E. WEIGHT. SLEEP.“ ausgestellt mehr >>. Ein anderes Stilmittel verwendet er schon länger, nämlich kleinste Punkte zu umrahmen und somit aus dem Bereich des Zufälligen zu holen. Im Katalog von „E-E. WEIGHT. SLEEP.“ mehr >> findet sich dazu auf Seite 119 eine Abbildung mit einer Notiz von 2015, übersetzt:
(E-E) Evgenij Kozlov BEC (WEIGHT) / (detail), 2016 Eine wichtige Veränderung gegenüber den Grafiken ist die erweiterte Signatur: während die Grafiken mit „E-E“ gestempelt sind, tragen die Leinwände die Signatur „E-E PeOPLe“ beziehungsweise „PeOPLe E-E“. Der Zusatz PeOPLe macht die Mitmenschen zu Mitautoren der Werke, so wie der Künstler es mittlerweile selbst empfindet; gleichzeitig ist PeOPLe auch eine Widmung an die Menschen.
Bis dato, das heißt, bis April 2022, sind achtundzwanzig übermalte Drucke auf Leinwand entstanden; die letzten beiden sind noch in Arbeit. Die ersten zwanzig haben wir in einer Größe von 155 x 112 cm drucken lassen, teilweise sind sie etwas höher. Danach haben wir beschlossen, ein doppelt so großes Format zu nehmen, da berührungslose Scanner von den Grafiken auch für eine Druckgröße von 220 x 155 cm hervorragende Ergebnisse liefern. Die weißen Bildränder können für das Aufziehen der Leinwände auf Keilrahmen genutzt werden, und das ist auch der Grund, warum der Künstler Titel, Ort und Jahr kopfstehend auf den unteren Rand der jeweiligen Komposition aufgebracht hat: auf der Rückwand des Keilrahmens erschiene die Schriftzeile um 180 Grad gedreht und wäre somit in der richtigen Ansicht zu lesen. Geplant ist, den dritten Teil des Zyklus zunächst mit den ersten Fassungen der jeweiligen Serien fortzuführen.
Die Schöpfung aus dem Nichts Am Verhältnis der drei Teile von „Jahrhundert XX“, die jeweils höchst unterschiedliche Techniken nutzen, lässt zeigen, wie (E‑E) Evgenij Kozlov Motive und Kompositionen über mehr als drei Jahrzenten entwickelt und verändert hat. Aby Warburg sprach von „Bildwanderungen“, doch er betrachtete sie über einen Zeitraum von Jahrhunderten und geografische Distanzen hinweg, während sich solche „Wanderungen“ bei E-E Kozlov in einem einzigen Werkzyklus manifestieren. Dafür ist der Umfang von „Jahrhundert XX“ mit circa eintausend einhundert Einzelwerken monumental und die Anzahl der vom Künstler selbst geschaffenen Motive überwältigend. Dabei werden Motive und Kompositionen im Verlauf der Schaffens gleichzeitig komplexer und einfacher, was für die Logik ein Widerspruch ist, aber nicht für die Gestaltung künstlerischer Bilder. Allerdings tritt in diesem Zyklus neben die Prinzipien von Differenzierung und Reduktion ein drittes Prinzip zutage, welches gerade nicht Thema von Warburgs Schriften ist oder zumindest bei ihm im Hintergrund bleibt: die Geburt neuer Motive, die in die Kompositionen eingefügt werden und damit deren Sinn – und gleichzeitig ihren eigenen – verändern. Die Rede ist von der so umstrittenen und angezweifelten „Schöpfung auf dem Nichts“, das heißt, der Schöpfung aus dem Raumlosen ins Räumliche und der Dauer ins Zeitliche hinein – in das Dasein, um bei Hegels Dialektik zu bleiben: Sein – Nichts – Werden – Dasein. Ohne die „Schöpfung auf dem Nichts“ gäbe es im Dasein nur Varianten des ewig Gleichen, nämlich das, was berechnet werden kann: Visualisierungen von Algorithmen, die selbstverständlich auch ästhetische Qualitäten besitzen, wie die farbigen Darstellungen von Fraktalen zeigen, welche eine Zeitlang große Popularität erreichten. Oder bestenfalls, im Sinne der Optimierung einer Problemlösung, Algorithmen, die durch andere Algorithmen gesteuert werden, beispielsweise, wenn man an statistischen Abweichungen interessiert ist, mit Hilfe des gesteuerten Zufalls, um die Unvorhersehbarkeit von Ergebnissen zu simulieren. Die „Schöpfung aus dem Nichts“ wäre dann eine Metapher für das Entstehen von etwas, was tatsächlich nicht berechenbar ist, auch wenn es sich nach seinem Entstehen in eine wie auch immer geartete Ordnung einfügen lässt. Doch ergeben sich beim Nachdenken über diesen Gedanken eine Reihe anderer Möglichkeiten, den Ursprung schöpferischer Gedanken zu „verorten“, ohne sich auf das „Nichts“ einzulassen – warum zu Beispiel nicht im Reich des Imaginären, wo man auch die imaginären Zahlen findet? Das Denken hat ja zwei Funktionen: die des Hervorbringens des Gedankens und die des Nachdenkens über das Gedanken, was in der griechischen Mythologie durch Prometheus und Epimetheus versinnbildlicht wird. Hier muss gleich wieder eine Korrektur erfolgen: der Mensch bringt den ursprünglichen, schöpferischen Gedanken nicht wirklich hervor, er muss ihn – im Unterschied zu Prometheus – empfangen. Im Übrigen gehört in „Jahrhundert XX“ zur „Schöpfung aus dem Nichts“ das „Verschwinden ins Nichts“, nämlich dann, wenn in einer Komposition bestimmte Motive Platz für andere machen oder eine komplette Metamorphose erleben, was sie jedoch nicht daran hindert, plötzlich an anderer Stelle ähnlich ihrer ursprünglichen Form wieder aufzutauchen. Man kann sich darüber streiten, ob die oben besprochene Titelzeile „…der Schönen / des Schönen“ bereits das Kriterium der Schöpfung aus dem Nichts erfüllt oder nicht. Einerseits entsteht „des Schönen“ am eigentlichen „Punkt“ der Weggabelung, der ja ein Punkt ohne Ausdehnung ist, raumlos. Doch die gegensetzte Auffassung ist ebenfalls möglich: „des Schönen“ ist lediglich eine polare Ergänzung zu „der Schönen“ – eine Variante, die aus dem Reservoir alles Existierenden, des Daseins genommen wurde. Der Clou liegt hier vielmehr in der Verbindung der beiden Begriffe, die für die Interpretation des Bildes eine neue Dimension eröffnet. Es kommt also auf die Qualität der Verbindung an, einerseits. Andererseits: solange der Mensch Produkte mithilfe der Materie schafft – und Worte sind im Unterschied zu Begriffen materielle Äußerungen geistiger Prozesse – wird man immer eine „bloße“ Kombination materieller Objekte behaupten können, eine Art Bricolage oder Bastelei. Vielleicht aus diesem Grund ist es einfacher, das „Neue“ mit spektakulären Kombinationen materieller Artefakte gleichzusetzen, der sogenannten Kontextverschiebung. Mit der Kontextverschiebung eines „Ready-Made“ – dem Pissoir in einer Kunstausstellung – ist Marcel Duchamp in die Kunstgeschichte eingegangen. Mit seinen drei Teilen, die aufeinander aufbauen und dabei höchst unterschiedliche Techniken nutzen, bietet der Zyklus „Jahrhundert XX“ Kontextverschiebungen subtilerer Art, und die damit verbundene Neugestaltung der geistigen Substanz, des Bewusstseins, rückt in den Blick. Aufgrund seines Umfangs, der Virtuosität des Aufbaus und der Fülle an Details eignet sich „Jahrhundert XX“ für eine Langzeitstudie des zwanzigsten Jahrhunderts im Zeitraffer, um diesen Paradox zu bemühen. Dabei erkennt man, wie sich die verschiedenen Schöpfungsprinzipien von Differenzierung, Reduktion und Schöpfung aus dem Nichts überlagern und jeweils unterschiedlich prägnant zeigen – beispielsweise am Motiv des Schreibers, das uns im Weiteren begleiten wird. Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass die begriffliche Bestimmung von Differenzierung, Reduktion und Schöpfung aus dem Nichts eine Bestimmung post-factum ist und nicht vom Künstler selbst stammt, sondern von mir. Kozlov hat, wie erwähnt, den Begriff „CHAOSE ART“ geprägt; ich komme später darauf zurück. Warum ich dennoch bei meinen Begriffen bleibe, hat den Grund darin, dass sie den zeitlichen Verlauf der Schöpfung verdeutlichen, auf den es mir zunächst ankommt, während „CHAOSE ART“ sich auf die räumliche Anordnung der Motive bezieht, die selbstverständlich auch in meiner Diskussion ein Rolle spielt, aber nur von Fall zu Fall. Wie auch immer – für den Künstler selbst ist ausschlaggebend, dass das jeweilige Werk in sich harmonisch ist, oder, anders ausgedrückt, den maximalen Punkt seiner Vollendung erlangt. Nicht für alle Einzelwerke hat er dies in gleichem Maß verwirklichen können, denn dafür müsste er die Möglichkeit haben, jederzeit mit sämtlichen Werken in einen Dialog zu treten, und man kann sich leicht vorstellen, welche Fläche die Gesamtheit der Bilder aus dem Zyklus „Jahrhundert XX“ beanspruchen würden. Hannelore Fobo, 7. April 2022. Weitere Kapitel folgen.
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