Hannelore Fobo

Evgenij Kozlov «Miniaturen im Paradies» 1995 Seite 2




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Forum Kunst Rottweil
Forum Kunst Rottweil

1 000 000 Himmelsscherben

Für die Miniaturen im Paradies gab es einen Auslöser.

Евгений Козлов / Evgenij Kozov, 1994

(E-E) Evgenij Kozov, 1994

Anfang 1995 war Evgenij Kozlov mit zwei weiteren Petersburger Künstlern, Oleg Zaika und Inal Savchenkov, zur einer Ausstellung im Forum Kunst Rottweil eingeladen, der er den Namen Absolute Carte blanche gab. In Rottweil war es üblich, dass die Künstler eine Fahne für die Ausstellung herstellten, die dann in der Sammlung des Forums Kunst verblieb. Das Material für die Fahne war weißer Baumwollstoff im Format 4 x 1,60 Meter, und als Motiv wählte Evgenij Kozlov zwei stilisierte Figuren – Mann und Frau – die er für die Ausstellung Signification (1994) in Liverpool gestaltet hatte. Es sind Weiterentwicklungen der Figuren von 1988, welche zu jenem Zeitpunkt der Polarität der Weltmächte USA und UdSSR zugeordnet waren. Ein charakteristischer Unterschied der Symbole des Mannes und der Frau zeigt sich bereits 1988: der Mann hält die Arme nach unten, ist erdverwachsen, die Frau richtet sie nach oben, strebt zum Himmel.

 

Im Unterschied zum Vorgängermotiv von 1988 stehen die Figuren von 1994 nicht nebeneinander, sondern versetzt: der Mann bleibt auf der Erde stehen, die Frau schwebt dem Himmel entgegen. Unter ihr sieht man die Silhouette einer Stadt (St. Petersburgs), einer ihrer Arme ragt in eine Wolke. Dadurch bekommt das Motiv eine vertikale Bewegung, was der Intention der Liverpooler Ausstellung entsprach: Signification stellte „Zeichen“, „signs“ in den öffentlichen Raum in Form von Fahnen, und Fahnen gehören zum Element der Luft.
Евгений Козлов / Evgenij Kozlov, Forum Kunst Rottweil, 1995

(E-E) Evgenij Kozlov
Forum Kunst Rottweil, 1995

Im Rottweiler Motiv gibt es im Vergleich zu 1994 eine weitere Änderung. Bedingt durch das langgezogene Format werden die beiden Figuren gestreckt und dabei kurviger. Der Schwerpunkt verlagert sich nach oben. Die Figuren werden schwungvoll, dynamisch. Nun hält auch der Mann einen seiner Arme nach oben, er vereinigt sich mit dem Arm der Frau, beide stoßen in eine Wolke. Dadurch hat man den Eindruck, dass er die Frau schwerelos in der Luft hält, so wie man es im Traum erlebt, wenn die Schwerkraft aufgehoben ist. Wir werden sehen, dass dieses Motiv im Zyklus der Miniaturen eine erneute Veränderung erfährt. Als Reminiszenz an den Ort der Herstellung ist ist auch die Stadtsilhouette eine andere: es sind hier die mittelalterlichen Türme Rottweils.

In Rottweil fertigte der Künstler für die präzise Ausführung des Motivs eine Schablone aus Natronkraftpapier an, die auf den Stoff gelegt wurde. Natronkraftpapier ist ein robustes Packpapier, auf einer Seite angeraut und damit besonders saugfähig. Als ganze Bahn unter den Stoff gelegt schützte es auch den Boden vor der Lackfarbe, die mit Walzen aufgetragen wurde. Der Stoff muss nach seiner Bemalung umgehend vom Papier abgezogen werden, damit er nicht an ihm festklebt. Auf der Papierunterlage erhält sich jedoch dank der Durchlässigkeit des Stoffs das Motiv, dessen Ränder sich scharfkantig abzeichnen. Es ist im Grunde genommen dasselbe Verfahren wie beim Siebdruck, nur dass der Durchdruck marmoriert ist, da der Stoff die Farbe zum Teil aufsaugt und deshalb unregelmäßig durchgehen lässt. Dadurch ergibt sich eine ausgesprochen reizvolle Kombination aus dem braunen Untergrund des Papiers und dem weichen, marmorierten Auftrag der Farbe, in diesem Fall rot. Während die Stofffahne durch die Technik der Schablone eine plastische Wirkung hat, ist die Wirkung des Drucks auf Papier weicher, sie hat mehr Textur.

 Евгений Козлов / Evgenij Kozlov 1 000 000 Осколков Рая / 1 000 000 Himmelsscherben /  1 000 000 Shards of Heaven, Studio «Russkoee Polee 2»

(E-E) Evgenij Kozlov
1 000 000 Осколков Рая / 1 000 000 Himmelsscherben /
1 000 000 Shards of Heaven

Studio «Russkoee Polee 2», 1995

Evgenij Kozlov beschloss, Schablone und Papierdruck der Rottweiler Fahne nach Berlin mitzunehmen und den Vorgang mit einem weißen Stoff zu wiederholen. Dazu kauften wir eine Rolle Natronkraftpapier in der Breite von 1,60 und ca. 200 Metern Länge. Der Vorgang der Bemalung blieb gleich, es erfolgte zunächst die Schichtung von Unterlage, Stoff, Schablone. Der Unterschied war lediglich, dass der Künstler die Bemalung in zwei Durchgängen vornahm. Anders ausgedrückt, er bemalte den Stoff zweimal hintereinander, um eine höhere Sättigung des Farbauftrags zu erreichen. Für den zweiten Farbauftrag benutzte er eine frische Papierunterlage, so dass man von einem Zweitdruck sprechen kann. Der Zweitdruck bleibt heller als der Erstdruck, da die Fasern des Baumwollstoffes durch den ersten Farbauftrag bereits zum Teil verklebt sind und die Farbe an Durchsickern hindern.

 

Dem Motiv der Rottweiler Fahne, das in Berlin noch silberne Streifen bekam, gab der Künstler den poetischen Titel 1 000 000 Himmelsscherben.

 

Das Paradies in Miniaturen

Die große Rolle Kraftpapier eröffnete die Möglichkeit, mit der Technik des Durchdrucks zu experimentieren. Schon in den Jahren zuvor hatte sich Evgenij Kozlov mit der Malerei durch Stoff beschäftigt, insbesondere ab 1988. Damals benutzte er als Stoffauflage Gaze, die wesentlich durchlässiger ist als Baumwollstoff. Entsprechend interessierte ihn bei dieser Technik in erster Linie der Effekt, den die Gaze als grobmaschiges Sieb auf der Unterlage hervorruft – je nach Art des Farbauftrags. Öl auf Karton beispielsweise erhält mit Hilfe der Gaze eine Struktur, die an Leinwand erinnert. Nun, in Verwendung mit Baumwollstoff und Fahnenstoff, einem dichten Acrylgewebe, rückte die Stoffauflage in den Vordergrund, und der Druck auf der Papierunterlage war ein wunderbares Nebenprodukt.

 


(E-E) Evgenij Kozlov
Нет, - отвечаю, - Это я жил /
Nein, antworte ich, ich selbst lebte /
I told him on the contrary, I was the one who'd been living

Mischtechnik auf Holz, 69 x 96,5 см, 1995

Evgenij Kozlov begann mit zwölf Arbeiten, die wir später die „mittleren“ Miniaturen nannten. Es handelt sich um drei verschiedene Motive auf Baumwollstoff mit insgesamt neun Ausführungen auf Papier, wobei die Papierarbeiten eine Höhe von bis zu 263 cm erreichen. Die Entwürfe und Zeichnungen zu den großen Miniaturen sowie die zahlreichen Grafiken und Gemälde in kleinem Format waren dann entsprechend die „kleinen“ Miniaturen. Sie umfassen eine große stilistische Vielfalt; die Technik der Schablone ist nur eine aus vielen. Gemeinsam ist ihnen, dass in der einen oder anderen Weise die Motive aus den mittleren und großen Miniaturen thematisiert werden. Wir sehen sie in Kombination mit einer Reihe von neuen Motiven wie dem Kopf einer Frau mit Haube in seitlicher Ansicht. Solche freien Gestaltungen finden auch in den Jahren nach 1995 ihre Fortsetzung.

 

Die Stoffarbeiten der mittleren Miniaturen sind Papa – Mama, Der Ewige Start und Die Fünfte Kolonne. Hier knüpfte der Künstler an weitere „konstruktivistische“ Motive von 1988 / 89 an, für die er ebenfalls Schablonen angefertigt hatte.

Евгений Козлов / Evgenij Kozlov My Father's Expeditions, Detail. Mixed media, canvas, approx. 154 x 251 cm, 1995

(E-E) Evgenij Kozlov
My Father's Expeditions
Detail. Mischtechnik auf Leinwand, ca. 154 x 251 cm, 1995

In ihnen finden wir beispielsweise die Rakete, die dorische Säule, die Sonnenspirale, den Stern sowie zahlreiche abstrakte Elemente in Linien- und Zickzackform, „Begleiter“ der gegenständlichen Figuren. Es kamen aber auch Elemente aus späteren Gemälden. So nimmt in der Fünften Kolonne die Engelsgruppe auf dem Gesims des Triumphbogens die Bewegung einiger Figuren aus dem Gemälde My Father’s Expeditions auf (dieses Gemälde wurde 1995 vollendet).

 

 

Евгений Козлов / Evgenij Kozlov Классический Пух / Die Klassische Daune /  The classic down, Acrylic paint, paper, 199 x 123 см, 1995

(E-E) Evgenij Kozlov
Классический Пух / Die Klassische Daune /
The classic down

Acryl auf Papier, 199 x 123 см, 1995
Typisch für diese zwölf Miniaturen ist die Kombination der Schablonentechnik mit dem „Dripping“, dem Malen aus der Distanz. Evgenij Kozlov benutzt Technik seit den achtziger Jahren, aber anders als Jackson Pollock nicht für eine ausschließliche Gestaltung des Bildgrunds, sondern im Kontrast zur formalen Strenge glatter Konturen. Der Lackfaden, der von der Pinselspitze auf die Leinwand fällt, lässt sich dirigieren, und das zeigt sich am Ergebnis. Die Lackfäden und -punkte liegen auf bestimmten Bildpartien in bestimmter Anordnung, längs- oder kreisförmig, als Bordüre, Schraffur, kreuzförmig oder verflochten. Oder auch als Schnellschrift, wenn die Buchstaben in der Linie verschwinden, wenn Punkte Vokale und Konsonanten nur andeuten. In der Serie von 1996 Virtuose Realität hat der Künstler diese abstrakte Kalligrafie für Bildtitel und Unterschrift benutzt.

 

Евгений Козлов / Evgenij Kozlov Папа - Ночь / Papa - Nacht / Papa - Night, Detail. Work in progress. Acrylic paint, paper, 263 x 160 cm , 1995

(E-E) Evgenij Kozlov
Папа - Ночь /
Papa - Nacht / Papa - Night
Detail. Stadium.
Acryl auf Paper, 263 x 160 cm, 1995

Neben dem Dripping gibt es weitere malerische Elemente: die serielle Anordnung von kreisrunden Punkten, aufgereiht wie auf einer Perlenschnur, oder einzelne Kreise. Diese von Hand aufgetragenen Elemente werden wie das Dripping sparsam eingesetzt. Auf diese Weise werden die verschieden Papierdrucke eines Motivs individualisiert und unterscheidbar. Daher ist es auch logisch, dass jedes der Werke einen eigenen Titel trägt.

Bereits während der Beschäftigung mit den „mittleren“ Miniaturen entstand der Wunsch, die Motive in großem Maßstab zu entwickeln, als Flaggen für den öffentlichen Raum. Ich weiß nicht mehr, wer diese Idee zuerst ausgesprochen hat, Evgenij Kozlov oder ich. Wenn ich mich recht erinnere, so beschlossen wir Mitte März 1995 zwei Ausstellungen. Der erste Teil der Ausstellung mit dem Titel Das Paradies in Miniaturen sollte die zwölf mittleren Miniaturen zeigen. Das Datum der Eröffnung war der 1. April 1995, der Ausstellungsort das „Russische Feld“. Der zweite Teil Miniaturen im Paradies war für den 15. Juni geplant, und in der Einladungskarte zum 1. April heißt es „15. Juni bis 7. Juli (geplant) an einem öffentlichen Platz in Berlin“.

 

 Miniaturen im Paradies

In der Tat hatten wir zum Zeitpunkt unserer Entscheidung noch keine Vorstellung vom Umfang des Projekts, das heißt, von der Zahl und Größe der Miniaturen und ihrer technischen Ausführung, und eigentlich auch kein Budget – ganz zu schweigen von den Genehmigungen für die Nutzung des öffentlichen Raums. Jedoch war uns klar, dass nur ein Ort in Berlin in Frage käme, nämlich der Große Stern an der Siegessäule. Dabei bewegte uns ausschließlich die künstlerische Wirkung der Siegessäule mit dem Siegesengel, die sich inmitten des Grüns der Bäume des Tiergartens in das Blau des Himmels streckt. Es handelt sich um eine Aufwärtsbewegung des Engels, die die Horizontale, welche Erde und Himmel trennt, durchbricht.

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Евгений Козлов / Evgenij Kozlov Миниатюры в Раю / Miniaturen im Paradies / Miniatures in Paradise, 1995

(E-E) Evgenij Kozlov
Миниатюры в Раю /
Miniaturen im Paradies /
Miniatures in Paradise,
1995

 

Irgendwelche historischen Ereignisse, die sich am Denkmal abgespielt haben, haben wir dabei nicht in Betracht gezogen, ebenso wenig die Siege – und Niederlagen –, die das Monument versinnbildlicht. Die Titel der Miniaturen nehmen auf den Begriff „Sieg“ überhaupt keinen Bezug, der Siegesengel ist im Zyklus der Engel des Großen Stern beziehungsweise der Himmlische Engel. [3] Die erste Skizze, die Evgenij Kozlov für die Platzierung der Miniaturen anfertigte, zeigt den Großen Stern von schräg oben gesehen. Dieser „Blick von oben“ verweist auf den kosmischen Blick, von dem in der Einleitung die Rede ist. Von oben gesehen bringt die Siegessäule das Irdische dem Himmlischen entgegen.

 Vom Himmlischen – oder Kosmischen – aus gesehen ist das Irdische eine Miniatur, aber eine Miniatur mit starkem schöpferischen Potential, das für den Kosmos Bedeutung hat.

Im Ausstellungstext formulierte Evgenij Kozlov es folgendermaßen

 

„Als ich vor einiger Zeit mein Atelier «Das Russische Feld» von St. Petersburg nach Berlin verlegte, habe ich nicht vermutet, dass mich hier ein Paradies erwartete – ein Paradies in Miniaturen, wenn man es mit dem unendlichen göttlichen Paradies vergleicht. Die Energie und die Kraft Berlins, der Puls der deutschen Schaffensdynamik sowie meine natürliche künstlerische Kraft, die sich mit schöpferischen Visionen verbindet, versetzten mich fast augenblicklich in den wunderbaren Strom russisch-deutscher Bilder. Sie sind in dieser Stadt bereits Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden und erreichen gegenwärtig riesige Ausmaße.”




(E-E) Evgenij Kozlov
Рай в Миниатюре - Миниатюры в Раю / Das Paradies in Miniatur - Miniaturen im Paradies /
Paradise in Minitaures - Miniatures in Paradise

Einladungskarte, 1995.

Wir gaben der ersten Ausstellung mit den „mittleren“ Miniaturen den Titel Das Paradies in Miniaturen, so wie es Evgenij Kozlov mit seiner neuen Berliner Wirkungsstätte erlebte. Miniaturen im Paradies entspricht dann der Bezeichnung, wie sie ein Mensch, „der nicht auf der Erde geboren wurde und nie seinen Fuß auf diese gesetzt hat“ den sechzehn Fahnen gegeben hätte. Die Kunst als Schöpfung des Geistes kann dem Paradies etwas hinzufügen, wenn auch nur als Miniatur.

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[3] Der im Übrigen sehr schöne Film, den die Dokumentarfilmerin Ingrid Molnar über dieses Projekt herstellte, zeigt gleich zu Beginn eine Schnittfolge mit einer Fotografie von 1945, der Siegesfeier sowjetischer Soldaten an der Siegessäule. Dies ist ein filmischer Kunstgriff, der nichts mit unserer Intention zu tun hat. Es ist sicherlich reizvoll, die Miniaturen im Paradies in einem solchen Kontext zu untersuchen und dabei auch andere künstlerische Ansätze zu berücksichtigen, bei denen der Siegessäule eine Rolle zukommt, etwa den Film von Wim Wenders Der Himmel über Berlin, oder die Loveparade von 1996 – 2006. Eine solche vergleichende Untersuchung, in der hinsichtlich einer Neuformulierung des „Sieges“ auch die futuristische Oper Der Sieg über die Sonne von 1913 ihren Platz hätte, ist nicht Gegenstand dieses Essays, da der Bezug der Miniaturen auf die Siegessäule ein unmittelbarer ist und nicht historisch oder ästhetisch vermittelt.

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