Radical Chic für Bedürftige Seite 2


Einige Anmerkungen zu „after the butcher“ bei „based in berlin“


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Soll das heißen, dass ein Kunstwerk als Tatbestand sich jeglicher objektiver Beurteilung entzieht? Wenn das so wäre, wie kann es sein, dass Herzog Carl August die Qualität von Goethes Kunst erkannt hat, wenn es sich nicht um eine objektive Qualität handelte?

Schauen wir uns den obigen Satz genauer an. Was bedeutet es, dass Kunst an „subjektives wahrnehmen“ gebunden sei? Nun, das bedeutet zunächst einmal nichts anderes, als dass der Künstler sein Werk nach individuellen Gesichtspunkten herstellt. Bedeutet „subjektiv“ aber auch, dass sich diese individuellen Gesichtspunkte dem Urteil eines anderen Menschen entziehen, weil sie eben „subjektiv“ sind? Nein, das bedeutet es gerade nicht. Allein schon, dass ich weiß, was der andere mit dem Begriff „subjektiv“ sagen will, bringt zum Ausdruck, dass wir eine gemeinsame Basis der Verständigung haben, die man „intersubjektiv“ nennen kann oder eben auch „objektiv“. Wir wissen „objektiv“, was mit „subjektiv“ gemeint ist: in der Kunstproduktion die Gestaltung nach den individuellen Vorstellungen von der Zusammenstellung der einzelnen Elemente (Harmonie) sowie der Abgeschlossenheit des Werkes. Diese Vorstellungen sind konstituierend für das Werk und lassen sich vom Betrachter nachvollziehen, gegebenenfalls auch hochschätzen. Carl August schätzte an Goethes Kunst ja gerade ihr individuelles, einmaliges Auftreten, ihre Originalität, die einen ganz speziellen Reichtum an Formen und an Tiefe des Inhalts  zeigte, welche untypisch war für die Masse der Dichter. Dieses subjektive Auftreten (das Auftreten am Subjekt Goethe) war also objektiv (für Carl August im Objekt Goethe) vorhanden.

Spricht es nun gegen die Objektivität einer Aussage, dass sie mit anderen Aussagen zum selben Werk nicht übereinstimmt? Dass der eine Goethe für genial hält und der andere ihn für einen Dutzenddichter? Wenn wir „Objektivität“ gleichsetzen mit „Übereinstimmung aller Urteile“, dann kommt es uns hier auf das „Ringen um Objektivität“ an. Eine hypothetisch gegebene Objektivität (Wahrheit) müssen wir also voraussetzen, wenn in der Lage sind, Differenzen in den Standpunkten wahrzunehmen. Gäbe es keinen zugrundeliegenden allgemeinen (objektiven) Standpunkt, auf den wir uns von verschiedenen Seiten aus zubewegen, den wir einkreisen, so gäbe es auch keine Möglichkeit des Vergleichs. Es ist richtig: wenn wir ein Werturteil über die Bedeutung des Kunstwerks abgeben, nehmen wir unsere individuellen Vorstellungen vom Wert einer Sache hinein. Allerdings ist es genauso richtig, dass wir Begründungen für unsere Qualitäts- oder Werturteile haben, und diese Begründungen müssen sich miteinander messen lassen. Wir fällen das Urteil so, dass der umfassendere Gesichtspunkt für uns Priorität hat. Auf diese Fähigkeit, das Wesentliche eines Urteils zu erkennen, kommt es an, darum geht der Streit. Nichts anderes ist mit dem „Ringen um Objektivität“ gemeint.

Nun könnte man sagen: ja, wenn wir im Hinblick auf die Beurteilung eines Werkes bei seiner Einmaligkeit, der Originalität ansetzen, wie wollen wir dann Goethe mit Schiller vergleichen? Welcher ist der bessere Dichter? Die Antwort darauf ist: was wir tatsächlich vergleichen, ist die Mächtigkeit der Wirkungen, die vom jeweiligen Werk ausgehen.

Genauer gesagt, tun wir zwei Dinge: wir vergleichen vertikal, indem wir das originellste, wirkungsträchtigste Werk aus einer Menge von „ähnlichen“ Werken herausfiltern. Dies ist die Analyse im Kontext. Und zweitens charakterisieren wir die auf diese Weise „prämierten“ Werke in Hinblick auf andere bedeutende Werke. In dieser Charakterisierung findet bereits kein Ranking mehr statt, denn es wäre sinnlos zu behaupten, dass Goethe „besser“ war als Schiller oder umgekehrt. Die Charakterisierung eines Werkes arbeitet die jeweilige Leistung in ihrer jeweils einzigartigen Qualität heraus.

In der Praxis gehen diese beiden Ansätze Hand in Hand: die Charakterisierung fließt in das Ranking ein, andererseits machen wir uns nur die Mühe einer ausführlichen Untersuchung des Werkes, wenn es bereits als „wertvoll“ erachtet wurde; möglicherweise ist dieses Urteil ein intuitives und zwingt uns gerade deshalb zur genaueren Bestimmung des Wertes. Die beiden Extreme dieser Ansätze finden sich in einer rein monetären Wertung eines Kunstwerks einerseits, in der ein Zahlenwert die Illusion einer mathematischen Genauigkeit der Wertung hervorruft (Ranking), sowie andererseits in der Ablehnung einer jeglichen Art von Vergleichbarkeit, die für jedes Kunstwerk Originalität propagiert und daher allenfalls eine Charakterisierung ohne Wertung für zulässig hält. Letzteres, das deskriptive Vorgehen unter Verzicht einer Wertung, nimmt die Kunstwissenschaft in zunehmendem Maße für sich in Anspruch. Die Wertung erfolgt hier implizit durch die Auswahl der Objekte.

In diese Richtung einer impliziten Wertung geht Thomas Killper.

Wenn der Verfasser im Ausstellungstext vehement einklagt, „kunst funktionert durch intensitäten, widerständigkeit, widersprüche und irrsinn“, so muss man dem nicht widersprechen, doch ist damit nichts ausgesagt über das Produkt dieser „intensitäten“, über das Ergebnis, auf das es uns ankommt.

Niemandem würde es einfallen, die Bedeutung des Kunstwerks für die individuelle Entwicklung des Künstlers in Frage zu stellen. Ausschließlich über die weiterreichende, überindividuelle Bedeutung des Kunstwerks, seine Wirkmächtigkeit, zu deren Förderung dann von anderer Seite Mittel zu Verfügung gestellt werden, wird gestritten.

Man muss sich diesem Streit nicht zwangsläufig aussetzen. Man kann Kunst als Hobby betreiben, ohne jeden Anspruch auf Breitenwirkung. Sucht man aber die Öffentlichkeit, will man gar durch seine Kunst sich mit sozialen Fragen befassen, wie es Thomas Killper  für „after the butcher“ als „unabhängigen Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst und soziale Fragen“ in Anspruch nimmt, so grenzt es schon an Selbstbetrug, wenn man sich zwar für die Teilnahme aussuchen lässt, aber vorgibt, die Auswahl habe nichts mit einer Leistung zu tun – jedenfalls nicht mit einer solchen Leistung, die vom Geldgeber zu beurteilen sei. Was folgt daraus? Allein seine „subjektive wahrnehmung“ wird vom Künstler als objektives – tatsächliches, wahres – Leistungskriterium anerkannt. Diese Art von Objektivität, die auf einer einzigen Meinung beruht, wird zum gültigen Urteil erhoben; dieser allein sollen sich die Rezipienten oder Geldgeber beugen. Dies nenne ich eine „implizite Wertung“ – implizit, weil diese Wertung dogmatisch vorgenommen, keiner Reflexion unterworfen, nicht auf die Ebene der Begrifflichkeit gehoben wird. Auf diese Weise lässt sich vermeiden, dass das eigene Werk durch den Vergleich eine möglicherweise kränkende Wertung erhält.

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